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Sommerstimmung auf einer Schweizer Alp:
In matten Dunst gehüllte Schneegipfel, blauer Himmel, satte Wiesen, fette Kühe. Kuhglocken klingen. Ein Mann hockt auf einer Krete und versucht stumm, eine Kuh anzulocken. Das Bild wäre kitschig, handelte es sich bei dem Viehhirten nicht um einen Peul aus Burkina Faso, der zum Schutz vor der Kälte seinen Turban um den Kopf gewickelt hat.
Die Szene steht etwa in der Mitte von ‹Q Begegnungen auf der Milchstrasse› und bringt poetisch auf den Punkt, um was es im Film geht: Um Menschen, die im Fremden das Vertraute entdecken und im Vertrauten manchmal das Fremde.
‹Q› zeigt drei Viehzüchter und Milchhändler aus Mali und Burkina Faso auf ihrer Reise in die Schweiz, wo sie mit ihren Berufskollegen, zwei Milchbauern im Seeland und einem Käsereiunternehmer im Berner Oberland, zusammentreffen. Zurück in ihrer Heimat berichten sie ihren Freunden und Nachbarn von ihren Reiseerfahrungen.

Der Film ist freilich weder ein chronologisches Dokument dieser Reise, noch eine Aneinanderreihung von Gegensätzen zwischen dem ‹reichen› Norden und dem ‹armen› Süden. Es geht in ‹Q› vielmehr darum, Gemeinsamkeiten auf die Spur zu kommen und Differenzen quer zu den gängigen Klischees auszumachen. So unterscheiden sich zwar die Wahrnehmungen des Burkinaben Dicko und des Seeländer Grossbauern Heimberg darüber, was Fortschritt sei, aber als erfolgreiche Agrarunternehmer finden beide gleichwohl einen Draht zueinander. Heimberg und der Biobauer Hurter aus dem Neuenburgischen wiederum spielen ähnlich virtuos auf der Klaviatur des kapitalistischen Agrarmarktes, unterscheiden sich aber in ihrer Haltung zum Vieh und zur Viehwirtschaft. Hurter und der Afrikaner Ly schliesslich räsonnieren unterschiedlich über die Verwandtschaft des Menschen mit der Kuh, finden sich jedoch im gleichen Diskurs über die Seele des Tieres.

   
Auch visuell verknüpft der Film die verschiedenen Drehorte in Westafrika und der Schweiz zu einem einzigen Raum, der nicht geografisch, sondern thematisch definiert ist. Obwohl die Zuschauer einen sinnlichen Eindruck gewinnen vom Leben der westafrikanischen Peul - bei einem Kuhfest etwa oder der Flussüberquerung einer riesigen Viehherde, bei der morgendlichen Melkarbeit einer Familie in der Savanne und in einer kleinen Milchfabrik, bei Versammlungen im Dorf und einem Treffen der Viehzüchter der Sahel-Region - geschieht dies wie en passant. ‹Q› ist kein Afrikafilm, genauso wenig wie ein Film über Schweizer Milchbauern und Käser. Gäbe es solche Erwartungen, sie wären bald durch den unkonventionellen Filmschnitt zerstreut, der afrikanische Szenerien und Schweizer Standorte - Ställe, Höfe, Alpenkäserei, Viehschau, industrieller Molkereibetrieb - mit Leichtigkeit zusammenfügt. Dass die Zuschauer manchmal für ein paar Sekunden lang nicht wissen, wo sie sich bei einer Kameraein-stellung gerade befinden, wirkt dabei durchaus befreiend.
Die Dramaturgie von ‹Q› ist ganz vom Gegenstand des Films bestimmt: dem Verhältnis der Menschen zu den Kühen und damit zur Natur, ihrem Umgang mit der Milch und damit mit dem Markt, ihrer Reflexion über die eigenen Werthaltungen und damit über den Fortschritt.

   
Der Film beginnt mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen, die Schweizer von Afrika und Afrikaner von Europa haben. Darauf folgen lose miteinander verknüpfte Themenstränge: Das Verhältnis zwischen Mensch und Vieh; die Kuh als Trägerin gesellschaftlicher Projektionen; Ansichten über die gute Viehhaltung; die Arbeit des Melkers und die Verarbeitung der Milchprodukte; Diskussionen über Milchmengen, Zucht und künstliche Besamung; Ernährung und Wasser; Markt und Globalisierung.
Schnitt und Dramaturgie erlauben dem Regisseur, beim Blick auf ein Thema häufig die Perspektive zu wechseln. Als Zuschauer wird man Zeuge der Mischung aus Bewunderung und Abscheu, mit der die afrikanischen Viehzüchter die prall gefüllten Euter von Schweizer Hochleistungs- kühen betrachten. Überfluss erscheint auf einmal exotisch. Kurz darauf sehen wir die riesigen Viehherden reicher Viehzüchter aus dem Sahel. Auch hier ist Überfluss im Spiel und wird von den Afrikanern als solcher erkannt, mitsamt den nachteiligen Folgen für das übernutzte Weideland. «Wir haben nicht die gleichen Probleme», resümiert Amadou Dicko einmal, ein Viehzüchter aus Burkina Faso - aber Probleme hätten alle.

Formal nutzt der Regisseur alle Gesprächsebenen, welche bei den Begegnungen in Afrika und in der Schweiz möglich sind. Da sind einmal Ausschnitte aus Interviews, die der Regisseur mit den Protagonisten führt. Auf einer anderen Ebene, auf der die Filmemacher stille Beobachter im Hintergrund bleiben, finden die direkten Begegnungen zwischen den drei Viehzüchtern aus dem Sahel und den Schweizer Landwirten statt. Dabei treffen die Gesprächspartner jeweils paarweise aufeinander: Boubacar Sadou Ly, ein in Toulouse ausgebildeter Veterinärmediziner, der in Burkina Faso eine Vereinigung der Viehzüchter des Sahel gegründet hat, besucht den Hof des Biobauern Hurter. Amadou Dicko, ein ländlicher Viehzüchter, trifft auf Hanspeter Reust, den Besitzer eines Käsereibetriebs, der ehrgeizig nach Exportmärkten Ausschau hält. Hamadoun Dicko, wie Amadou Dicko aus Burkina Faso stammend, aber in der Hauptstadt Ouagadougou und der Handelsstadt Bobo Doulasso heimisch und Besitzer zahlreicher Grossherden, diskutiert mit dem Seeländer Grossbauer Hanspeter Heimberg.
Zentral ist eine dritte Gesprächsebene: der Austausch der Beobachtungen und Gedanken der Afrikaner unter sich. Wie ein roter Faden zieht sich eine Einstellung durch den Film, die Amadou Dicko und Hamadoun Dicko auf dem Rücksitz des Autos zeigt, von dem aus beide das Mittelland beobachten und in ihrer Sprache kommentieren. Zurück in Westafrika, werden die Rückkehrer von neugierigen Verwandten und Berufskollegen bedrängt. Ihre Reisereminiszenzen lösen zuweilen eine Heiterkeit aus, die ansteckend wirkt.

Aber Amadou Dicko, Hamadoun Dicko und Boubacar Ly nehmen nicht die gleichen Geschichten aus der Schweiz mit nach Hause. Das Besondere an ‹Q› ist gerade die unterschiedliche Sichtweise der Protagonisten, die den Zuschauern damit allmählich als Charaktere vertraut werden. Amadou Dicko wird immer staunen über Bauernhöfe, Milchfabriken, Tiefkühllager, Strassen und Wälder in der Schweiz und über das ganze Land. Hamadoun Dicko wägt nüchtern ab, wovon man lernen könne und was für Westafrika unpassend sei. Boubacar Ly dagegen ist überzeugt, dass der westliche Materialismus zwingend in eine Sackgasse führe. Er besucht aus eigenem Antrieb die Schweiz, um an Versammlungen teilzunehmen und im Namen der Vereinigung der Viehzüchter des Sahel für eine tiergerechte und genügsamere Viehwirtschaft zu plädieren.

‹Q› thematisiert damit unaufdringlich den technischen und sozialen Fortschritt und seine gesellschaftlichen Kosten. Diese Frage stellt sich für afrikanische Viehzüchter ebenso wie für Schweizer Viehhalter und Milchhändler. In der Sahelzone sind fortschreitende Wüstenbildung und klimatische Veränderungen, aber auch neue, demokratische Organisationsformen der Produzenten die Antriebskräfte des Wandels. In der Schweiz sind es die Liberalisierung im Agrarmarkt, Besitzkonzentration, Globalisierung, die Chancen einer betrieblichen Diversifizierungsstrategie.
Dass die Schweizer Viehhalter auf solche und verwandte Fragen unterschiedliche Antworten geben, ist zumindest uns Schweizer oder europäischen Zuschauern vertraut: Der biologisch-dynamische Bauer Ueli Hurter lehnt die künstliche Besamung und intensive Stallhaltung, wie sie vom Landwirt Heimberg praktiziert wird, ab. Darüber hinaus macht ‹Q› durch die Auswahl der afrikanischen Viehzüchter und ihrer verschiedenen Einschätzungen und Meinungen transparent, dass die Diskussion darüber, wieviel Nachahmung nötig und wieviel eigener Fortschritt möglich sei, um die ungleichen Entwicklungstempi der afrikanischen und der abendländischen Gesellschaften zu bewältigen, auch in Afrika pluralistisch geführt wird
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