Somena,
Mali, 9. Juni 1998, Rekognoszierung
Mohammed nimmt uns in sein Heimatdorf mit, das auf einem Hügel
am Niger bei Djenné liegt. Wir haben anstrengende Tage hinter
uns, in denen wir in der Hauptstadt Gespräche mit Experten
geführt und auf dem Land Viehzüchter, Hirten und Bauern
besucht haben. Jetzt will uns Mohammed, unser Guide und Übersetzer,
seiner Familie vorstellen, vor allem dem Grossvater Boubacar. Boubacar
ist der Marabout (Dorfälteste) von Somena.
In dem Peul-Dorf mit etwa 50 viereckigen, aus Erdziegeln gebauten
Häusern ist es drückend heiss. Im Nu hat sich der ganze
Clan um uns versammelt. Wir bekommen Stühle, während die
Einheimischen auf Matten auf dem sauber gefegten Boden hocken. Niemand
spricht Französisch, wir schauen uns an wie Kühe. Eine
von Mohammeds Tanten tritt mit einer Kalebasse aus dem Haus, die
mit Milch gefüllt ist. Es ist das höchste Geschenk, das
einem Gast gereicht wird, aber ich weiss und rieche, dass die Milch
ranzig ist wie in jedem afrikanischen Dorf. Ich nehme meinen Mut
zusammen und lehne ab, hilflos auf meinen Magen deutend. Es ist
mir bewusst, dass ich einen Affront begehe, und ich bin auf die
Reaktion meiner Gastgeber gespannt.
Deren Verwirrung ist nach wenigen Sekunden vorüber. Die Gesichter
erhellen sich mit der Einsicht, dass das, was ihnen alltäglich
erscheint, dem Fremden wohl als einen Brauch vorkommen muss. (Ein
Jahr später, als Amadou, Hamadoun, Ly und Mohammed in die Schweiz
kommen, werden sie sich übrigens mit grosser Selbstverständlichkeit
weigern, Käse oder manche Gemüse zu essen - Dinge, die
sie in Mali nicht essen.)
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Übungen
in Geduld
Dori,
Burkina Faso, 20. November 1998, Beginn der Dreharbeiten
Wir fahren von der Hauptstadt Ouagadougou 300 Kilometer Richtung
Norden nach Dori dem Beginn der Dreharbeiten, aber auch einer Lektion
in afrikanischer Problembewältigung entgegen. Dori ist eine
Kleinstadt in der tiefsten Pampa, aber es gibt dort das Hotel Oasis
du Sahel. Die moderne Container-Herberge für Geschäftsleute
ist zwar eine Fehlinvestition - nur wenige Entrepreneurs scheinen
die Gegend zu bereisen -, aber wir waren dafür schon einmal,
bei den Reko-Arbeiten im Juni, dankbar.
Aboudramane Ouedraogo, der Hotelmanager, sitzt im blauen Boubou
beim Empfang und freut sich über die seltene Kundschaft. Er
hat die chambres à grand luxe für uns reserviert und
uns dies per Faxschreiben auch im voraus bestätigt, wobei er
sich die Mühe nahm, auf dem Computer das Hotel-Logo für
das Briefpapier im Schriftenwechsel mit der Schweiz zu entwerfen.
Doch nun sind die Klimaanlagen in den reservierten Zimmern kaputt!
Aboudramane Ouedraogo geht mit dem Malheur gelassener um als wir,
probiert diesen Knopf und jenen Schalter aus und zuckt schliesslich
mit den Schultern. Er erschrickt aber, als wir fragen, weshalb er
die Anlage denn um Himmels Willen nicht vor unserer Ankunft habe
testen können? Es entsteht eine Pause. Nun sagt Aboudramane
Ouedraogo so, dass seine Antwort nur als abschliessend verstanden
werden kann: "Es hat keinen Sinn, den Problemen nachzurennen,
denn sie kommen auf einen zu."
Wissen
ist Macht
Dori, Burkina Faso, Ende November 1998, Ly und die APESS
Wir sind nach Dori gekommen, weil hier die Association pour
la Promotion et l'Elévage au Sahel et en Savanne (APESS)
von Dr. Boubacar Sadou Ly ihre Jahresversammlung abhält. Ly
steht vielleicht im Zentrum, jedenfalls am Beginn unseres Projekts.
Er ist der Gründer der APESS, die von der Schweizer Direktion
für Entwicklungszusammenarbeit (Deza) unterstützt wird.
Ziel der APESS ist es, die Interessen der Viehzüchter des Sahel
zu vertreten und den Erfahrungsaustausch unter ihnen zu gewährleisten.
Aber Ly hat Grösseres mit dem Verband vor. Wir hatten den in
Paris studierten Veterinär als faszinierenden Gesprächspartner
kennengelernt, der zu jedem Tier der Region stundenlang Geschichten
zu erzählen weiss. Jetzt lernen wir eine zwiespältige
Seite seines Charakters kennen.
Die Tagung dauert eine Woche und wird in einen Rat der Weisen
und einen Viehhalter Weltrat aufgeteilt. Die Redner,
allen voran Ly selber, treten oft und gerne in die Runde.
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Wir filmen, aber wenn Mohammed übersetzt, geht es um Phrasen,
die uns zunehmend leer erscheinen: Es wird die revolutionäre
Einheit der Viehzüchter beschworen, deren Ziel es sei,
die vache positive planétaire zu züchten,
eine Art Idealkuh und das Geheimnis der Viehzüchter des Sahel,
an dem die Völker des Nordens teilhaben sollen. Ferner ist
die Rede von der Verwandtschaft von Mensch und Kuh und
der Kuh als Ausdruck Gottes. Unsere Rolle kommt uns
immer fragwürdiger vor. Redner drängen sich vor, wenn
wir mit der Kamera hantieren. Die Bauern und Viehzüchter aus
Burkina Faso und Mali können wir schlecht einschätzen,
die geladenen Weissen aus Europa hingegen schon: Es sind hier zum
Teil Alternative, die sich im Gefühl sonnen, mit Afrika eins
zu sein. Filmen wir einen produktiven Gedankenaustausch oder verhindern
wir diesen? Versucht uns Ly sogar für seine Karriere einzuspannen?
Er ist bei den Diskussionen ein verwandelter Mensch. Während
er uns, seit wir ihn kennengelernt haben, im Gespräch oft unterbricht,
um unsere "Argumente eines Weissen" mit Hinweisen auf
afrikanische Traditionen und Weisheiten zu korrigieren, tut er gegenüber
seinen Landsleuten gerade das Gegenteil: Er weist sie zurecht, indem
er sein umfassendes Wissen hervorkehrt. Ly ist in beiden Welten
ein Guru und stolz darauf. Schliesslich brechen wir die Filmarbeit
ab und warten auf den 30. November, den Tag der Versammlung, in
der die Gesprächsrunden zusammengelegt werden und der normalen
Traktandenliste der APESS-Generalversammlung Platz machen.
Schwierigkeiten
mit der Autorität
Diafarabé, Mali, 5. Dezember 1998, Afrikanischer Alpaufzug
In Diafarabé beginnt in dieser Jahreszeit, wenn der Niger
tief in seinem Bett liegt, die Saison der Flussüberquerungen.
Die Viehbesitzer der Gegend treiben ihre Tiere an den Strom und
an einem genau vorbestimmten Tag durchs Wasser. Am Ufer gegenüber
liegen Halbinseln, die während der trockenen Wintermonate als
Weidegründe genutzt werden. Ausserdem soll der Fluss die Tiere
reinigen.
Wir sind früh morgens am Fluss, wo Tausende Tiere zusammengedrängt
sind. Das Vieh ist unruhig; man hört die Rufe der Hirten, die
ausbrechende Tiere zurück in die Herde treiben. Wir bringen
die Kamera in Position, und ich mache einen Fehler: Ich frage einen
Viehtreiber, wer den Startschuss für die Überquerung gebe.
Der Mann ruft einen anderen herbei und berät sich, der Angesprochene
läuft weg. Ich habe keine Ahnung, was vor sich geht. Wir warten
und mit uns die Tiere - eine Stunde, zwei Stunden. Schliesslich
machen wir uns auf die Suche nach Monsieur Kader, der uns am Tag
zuvor als Chef ajoint du village vorgestellt wurde, und finden ihn
bei der fiebrigen Suche nach einem Gewehr.
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Jetzt
erfahren wir, dass der Befehl zur Flussüberquerung normalerweise
im Stillen gegeben wird. Aber meine Frage nach dem Startschuss war
als Wunsch nach einem dramatischen Effekt gedeutet worden. Wir haben
Monsieur Kader unter erheblichen Stress gesetzt, doch jetzt bitten
wir ihn, die Übung abzubrechen, wir wollten das Geschehen nicht
beeinflussen. Aber wir können nicht verhindern, dass Kader
einem alten Mann befiehlt, sich am Ufer aufzustellen und laut zu
rufen, damit der von uns gewünschte Befehl wenigstens
so erfolgt.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir mit unseren Ansinnen die hierarchische
Ordnung durcheinanderbringen. Doch während wir sie in Diafarabé
überhaupt erst aktivieren, hatten wir sie in der Woche zuvor
in Gountouré in Burkina Faso, in der Umgebung von Dori, durcheinandergebracht.
In Gountouré wollten wir mit Frauen ins Gespräch kommen,
die in der häuslichen Ökonomie der Viehzüchter eine
wichtige Rolle spielen: Sie melken die Kühe, wachen über
die Milch und benutzen sie in der Küche. Wir müssen uns
aber von unserer Regieassistentin Fatoumata Diallo, selber eine
selbstbewusste, städtische Frau aus Ouagadougou, sagen lassen,
dass bei den Peul "die Frauen das Wort nicht haben". Männer
unter 40 im übrigen auch nicht.
Ein
Afrikaner in Bern
Bern, Schweiz, August 1999 und Bobo Dioulasso, Mali, September 1999
Von den beiden malischen Viehzüchtern, die wir exklusiv für
unseren Film in die Schweiz eingeladen haben, ist Amadou Dicko der
bescheidenere, ein traditioneller Viehzüchter. Die Reise ist
für ihn die erste nach Europa, fast alles ist ungewohnt für
ihn, aber er verliert nie das Gesicht. Einmal, als wir in unseren
Berner Produktionsräumen Rohmaterial anschauen, bitten wir
Amadou, seine Gauloise Bleue im Freien zu rauchen. "Du musst
die Treppe hinunter gehen bis zuunterst, dann kommst du auf die
Strasse", sage ich und bringe ihn zum Treppenhaus. Nach zehn
Minuten steht er wieder im Raum und sieht etwas verwirrt aus, aber
er erzählt erst später, dass er die Haustüre nicht
finden konnte, weil er die Treppe hinunter ging bis zuunterst, und
sich in den Kellerräumen verirrte. Als ich ihm die Funktion
unserer Keller erkläre, schüttelt er den Kopf: "Chez
nous, ça existe pas."
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Ganz
anders Hamadoun Dicko, der Reiche, der Tausendernoten zusammenfaltet
und in die Westentasche steckt, als seien es Notizzettel, ein eigentlicher
Farmer, zudem ein Unternehmer und Politiker, der schon durch das
Tragen europäischer Kleidung zeigt, dass er ein weitgereister
Mann ist. Mit Hamadoun Dicko haben wir ein Problem: Er macht Spesen.
Der Wirt des Dreisternehotels, in dem wir ihn und Amadou untergebracht
haben, warnt uns, Hamadoun Dicko habe am ersten Tag seines Aufenthaltes
für 400 Franken telefoniert. Daraufhin kaufe ich Hamadoun ein
Handy und erkläre ihm, dass er die Gesprächsgebühren
selber zu begleichen habe. In den nächsten Tagen telefoniert
er fast ohne Unterbruch: im Auto, bei den Drehpausen, und weiss
der Teufel wieviel aus seinem Hotelzimmer. Er dirigiert sein Büro
in Bobo Dioulasso, dealt mit Geschäftspartnern, hält die
Familie auf dem Laufenden. Nach zehn Tagen steht seine Telefonrechnung
bei 2700 Franken. Dazu kommt eine Arztrechnung über 1200 Franken
für einen routinemässigen Check ("Mal sehen, was
eure Medizinmänner taugen", sagt Hamadoun Dicko). Einem
Gespräch über die anstehende Geldfrage weicht er aus und
gibt unausgesprochen zu verstehen, dass das Thema unter seiner Würde
liege. Bis zum letzten Tag der Dreharbeiten. Wir sind mittlerweile
zurück in Burkina Faso, in Hamadous Bobo Dioulasso. Wir haben
ihn bei der Arbeit im Stall gefilmt. Hamadoun trägt einen weissen
Boubou und eine Goldkette. "Wir müssen vor dem Abschied
noch etwas besprechen", sage ich zu ihm, setze mich in seinem
Büro an einen Tisch und ziehe die Belege hervor. "Hamadoun,
du schuldest mir 3900 Schweizer Franken." Es entsteht eine
Pause, dann erklärt Hamadoun, er werde nicht bezahlen. "Weisst
du", sagt er, "normalerweise fliege ich in der Business
Class, aber für dich bin ich Economy geflogen. Normalerweise
übernachte ich in Fünfsternehotels - ich habe mir das
Bellevue in Bern schon angesehen an einem Abend, normalerweise hätte
ich dort übernachtet -, aber für dich bin ich in einem
kleinen Gasthaus abgestiegen. Ich nehme das alles hin, es ist in
Ordnung, aber das hier", und er deutet auf meine Rechnungsbelege,
"das ist meine Entschädigung dafür." Nur die
Telefonrechnung über 400 Franken vom ersten Tag im Hotel, bevor
er ein Handy benutzen konnte, will mir Hamadoun zurückzahlen.
Begegnung
der Kuhphilosophen
Montezillon, Schweiz, 25. August 1999, Ly besucht Hurters Biohof
Neben den Burkinabe Hamadoun Dicko und Amadou Dicko ist Boubacar
Ly, der Veterinär aus Burkina Faso, in der Schweiz. Doch er
weilt quasi in offizieller Mission hier, als Teilnehmer des Conseil
Mondial des Eleveurs. Aber Ly macht auch in unserem Film mit. Die
Paarung, die wir mit ihm vorhaben, ist einfacher als
bei den anderen. Hamadoun Dicko haben wir mit Hanspeter Heimberg,
einem Grossbauern aus dem Seeland, Amadou Dicko mit einem Käsereiunternehmer
in Gstaad zusammengebracht, aber Boubacar Sadou Ly wird Ueli Hurter
treffen, einen biologisch-dynamischen Landwirt im Neuenburgischen.
Im Unterschied zu den anderen ist das, was sich Ly und Hurter zu
sagen haben, in ihren Köpfen. Ly ist der Afrikanist, der in
Frankreich studiert hat. Seine V.P.P. -Vache Positive Planétaire,
die ideale Kuh, ist seine Symbiose von traditioneller Viehhaltung
und den Achtundsechziger-Reminiszenzen der Weltrevolution. Hurter
ist Anthroposoph und ein weltoffener und praktischer Unternehmer,
der sich nicht scheut, Marktlücken auszumachen und zu nutzen.
Wir haben nichts vorbereitet, sondern stellen Ly und Hurter lediglich
einander vor. Das genügt auch. Schon im Kuhstall kommt es zu
einer lebhaften Debatte, die beim Essen im Restaurant fortgesetzt
wird. Hurter und Ly sind sich nah und doch sehr fern. Die Kuh hat
für beide einen Draht zum Kosmos, aber während Hurter
die Kuh als Gattung meint und nur dem Mensch Individualität
zubilligt, kommt Ly aus einer Kultur, in der sich der Mensch weniger
über die Natur erhebt als im Abendland, sondern eins mit ihr
ist. Deshalb, glaubt Ly, könne ein Peul die Sprache
der Kuh verstehen, und er will auch nicht ausschliessen, dass sie
denken kann.
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Amadou
kehrt heim
Baraboulé,
Burkina Faso, erste Septemberwoche 1999
Unser Kameramann hat ein Problem. Wir haben schnell begriffen, dass
die Szenen mit den Erzählungen Amadous, der als grosser Reisender
aus der Schweiz in sein Dorf zurückkehrt und von neugierigen
Nachbarn umringt wird, vielleicht die eindrucksvollsten Bilder des
Films abgeben. Aber worauf soll die Kamera gerichtet werden? Amadous
liebste Anekdote ist die von den Schweizern, "die alle in der
Milch baden, weil das dort Sitte ist." (Tatsächlich hatten
beim Fest in der Käserei auf der Gstaader Alp zwei lokale Touristen
in Molke gebadet, die man sonst weggeschüttet hätte.)
Soll die Kamera Amadou filmen, der erzählt und fabuliert, oder
auf die Zuhörer im Kreis, die einmal gespannt lauschen, dann
wieder lauthals lachen? Wir haben keine Ahnung, was gesagt wird.
Mohammed, der Übersetzer, steht neben uns, aber er hat keine
Zeit zu übersetzen. Er konzentriert sich auf das Gesagte und
gibt uns gelegentlich mit Thumbs-up-Zeichen zu verstehen, wenn der
Dialog zu seiner Zufriedenheit verläuft.
Mohammed
Bern und Mopti, Mali, April 2000
Mohammed ist tot. Noch im November 1999 war Mohammed, 35, ein zweites
Mal in der Schweiz, um, wo nötig, die Tonspur des fertig gedrehten
Filmmaterials zu übersetzen. Im Januar schreibt er, er sei
krank. Wir organisieren von der Schweiz aus eine Laboruntersuchung
in Bamako. Der Befund lautet auf Hepatitis B. Am 12. April stirbt
er. Die Ursache sei Krebs, heisst es.
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